Konzept

Fokus Lyrik 2019
Festivalkongress zur Gegenwartslyrik

Wer heute den Fokus auf die Lyrik richtet, kann nur staunen: Die Stimmenvielfalt ist enorm, die Qualität begeisternd und die Gegenwärtigkeit elektrisierend. Erstmals in der Geschichte der deutschsprachigen Poesie arbeiten alle Generationen an einem Lyrikdiskurs mit: Da führen Friederike Mayröcker, Volker Braun und Ror Wolf ihre beeindruckenden Werke fort. Und zugleich stehen noch nicht einmal Zwanzigjährige auf den Bühnen der Clubs und präsentieren ihre Gedichte in Live-Performances. Dies alles vor einem Publikum, in dem sich treue Lyrikleserinnen und Lyrikleser plötzlich mit hippen Millennials mischen.

Der Festivalkongress Fokus Lyrik bündelt diese Entwicklungen und bietet ihnen erstmals ein großes Forum. Das Besondere ist, dass er zwei unterschiedliche Facetten verbindet. Als Festival präsentiert er die künstlerischen Arbeiten selbst. Kuratiert von Monika Rinck, finden an jedem der drei Abende und als Matinee am Sonntagmorgen Dichterlesungen, Live-Performances und interdisziplinäre Aufführungen statt. Mit dem Museum MMK, der Jugendkulturkirche St. Peter und dem Künstlerhaus Mousonturm werden Räume bespielt, die den Aufführungen eine eigene Dimension hinzufügen. Ein solches Programm in einem derartigen Setting hat es noch nie gegeben. Als Kongress wiederum diskutiert Fokus Lyrik den Status quo der verschiedenen Praktiken der Produktion, des Vertriebs, der Präsentation und der Rezeption von Dichtung. Bei Podiumsdiskussionen, die Tristan Marquardt konzipiert hat, wird über die Poetik von Dichtkunst heute, ihre Internationalität und Vielsprachigkeit sowie die performative Wende gesprochen. Außerdem befragt die Lyrikkritik ihr Selbstverständnis und ihre Funktion. Diskutieren Literaturwissenschaftlerinnen und Literaturwissenschaftler, welche Rolle die Gegenwartslyrik an den Universitäten spielt. Geben Schulexpertinnen und Schulexperten einen Einblick in die Vermittlung von aktueller Poesie im Unterricht. Debattieren Veranstalterinnen und Veranstalter den Lesungsboom und evaluieren Förderinnen und Förderer ihr Engagement. Wird in einer öffentlichen Jurysitzung das literarische Preiswesen ebenso analysiert wie der Auswahlprozess an einem Beispiel durchgespielt. Und gibt es einen langen Tag mit Vorlesungen renommierter Literaturwissenschaftlerinnen und Literaturwissenschaftler, welche mit der Geschichte der deutschsprachigen Dichtung auch die Traditionen beleuchten. Wichtige Themen des Kongresses sind zudem die Perspektiven der Verlagsförderung, die Zukunft der Lyrikzeitschriften und das Verkaufspotential von Gedichtbänden im Buchhandel. Das heißt, der Festivalkongress bietet jenen Praktiken eine Bühne, die üblicherweise im Verborgenen ablaufen. Mit dieser Kombination aus Präsentation und Diskurs richten wir den Fokus auf die Lyrik neu aus. Dass mehr als 100 Akteure an den drei Tagen teilnehmen, zeigt, dass wir einen Rahmen setzen, um nach zwanzig Jahren „Lyrikboom“ Bilanz zu ziehen und zugleich Perspektiven für die nächsten zwei Dekaden zu eröffnen.

Was wir uns erhoffen? Impulse setzen, Akteure vernetzen, Diskussionen anregen und dies alles, um die Dichtkunst aus ihrer Nische zu holen. Denn die Lyrik steht nach zwanzig Jahren der feuilletonistisch gefeierten Blütezeit vor einem erneuten Dimensionen-Sprung: Was mit der Anthologie „Lyrik von Jetzt“ im Jahr 2003 erstmals eine größere Öffentlichkeit erreichte, wird jetzt über den deutschsprachigen Raum hinaus getragen und neu verortet. So feiert auf unserem Festivalkongress die spektakuläre Anthologie „Grand Tour. Reisen durch die junge Lyrik Europas“ ihre Premiere. Sie präsentiert erstmals die Gegenwartsdichtung im europäischen Raum. Damit stellt sich die Frage nach den poetischen Praktiken und ihren Vermittlungsinstitutionen in einem internationalen Kontext.

Ich bin sehr froh, dass ich mich für diese Fragen auf die hervorragende kuratorische Arbeit Monika Rincks und Tristan Marquardts sowie die umsichtige Koordination des Projekts durch Silke Hartmann verlassen durfte. Allen dreien danke ich sehr herzlich. Ebenso möchte ich Friederike Tappe-Hornbostel von der Kulturstiftung des Bundes für ihr großes Engagement danken, das uns für dieses einzigartige Vorhaben sehr motiviert hat. Uns alle verbindet die Hoffnung, dass Fokus Lyrik der gesamten Szene einen Schub gibt, der sie durch die kommenden Jahre trägt.

Dr. Sonja Vandenrath
Programmleitung Fokus Lyrik