20.07.2008 - Ansprache von Kulturdezernent Felix Semmelroth

Ansprache von Kulturdezernent Felix Semmelroth in der Paulskirche anl. der Kranzniederlegung am Mahnmal für die Opfer Nationalsozialismus, 20.07.2008

Es gilt das gesprochene Wort!

Anrede,

wir sind heute in der Wandelhalle der Paulskirche zusammengekommen,
um der Männer und Frauen zu gedenken,
die gegen die menschenverachtende Diktatur
des Nationalsozialismus Widerstand geleistet haben.

Seit 1952 wird diese Gedenkveranstaltung in der Bundesrepublik begangen,
in der Frankfurter Paulskirche seit 1954.

Für die Erinnerung gibt es keinen Ort mit größerer Symbolkraft als die Paulskirche,
den Gründungsort der deutschen Demokratie.


Und hier ist es darum unausweichlich, immer wieder der

– wohl nie schlüssig zu beantwortenden Frage – nachzugehen,

wie geschehen konnte, was in Deutschland und von Deutschland aus geschah,
warum die Zivilisation in einem vermeintlich zivilisierten Land zusammenbrach.

Das Wort Dan Diners vom Zivilisationsbruch trifft es.

„Wie isses nun bloß möglich“, fragt die Mutter fassungslos in Walter Kempowskis Roman „Tadelloser und Wolf“.

Von dieser Frage geht Jan Philipp Reemtsma in seiner jüngst erschienenen fulminanten Studie „Vertrauen und Gewalt: Versuch über eine besondere Konstellation der Moderne“ aus.

Zeichnet sich doch die Evolution der europäischen Gesellschaften dadurch aus,
dass sie die Anwendung von Gewalt unter einen besonderen Legitimationsbedarf stellt.

Wie waren diese Legitimationsansprüche mit den exzessiven Gewaltausbrüchen des 20. Jahrhunderts zu verbinden?

Und: Welche Auswirkungen hatten die Exzesse von Gewalt auf die Selbstbilder der Gegenwart?


Immer wieder ist die Rede von den „ganz normalen Männern“, die die unvorstellbaren Grausamkeiten – gleichsam routinemäßig - begangen haben:

Folter, habituelle Ermordung, unaufhörliche Gewalt.

Was immer man unter normal verstehen mag bei den Angeklagten im Ausschwitz-Prozess:
Menschen wie du und ich – das kann doch nicht sein.

Der Major Trapp, von der Polizeieinheit 101, der vor der Massenerschießung der Lieben zu Hause gedachte. Der den Weihnachtsbaum schmückende Rudolf Höß.

Nein, meine Damen und Herren, wir wissen längst, dass niemand gezwungen wurde mitzumachen, mit zu morden.

Auch in den Sondereinsatzgruppen nicht, die in Russland oder Polen wüteten.

Und es machten eben nicht alle mit, es widerstanden den Mördern auch Menschen,  die dafür eben nicht prädestiniert schienen. Sie zu ehren sind wir jedes Jahr am 20. Juli hier in der Paulskirche.

Am 20. Juli 1955 standen drei Frankfurter Widerständler aus dem Kreise des Militärs im Mittelpunkt der Feierstunde.

Erinnert wurde an Carl Heinrich von Stülpnagel, an Cäsar von Hofacker und an Karl-Friedrich Klausing.

Alle drei waren Schüler des hiesigen Lessing-Gymnasiums und hatten dort ihr Abitur gemacht.
Während der Besetzung Frankreichs im Zweiten Weltkrieg war Carl Heinrich von Stülpnagel Wehrmachtsbefehlshaber in Frankreich mit Sitz in Paris. Er beteiligte sich an der Verschwörung der Offiziere gegen Hitler am 20. Juli 1944, der Volksgerichtshof verurteilte ihn zum Tode. Nach einem gescheiterten Selbstmordversuch wurde er am 30. August 1944 in Berlin-Plötzensee hingerichtet.

Cäsar von Hofacker, nach der Besetzung Frankreichs Referatsleiter bei der deutschen Militärverwaltung, war über die militärische Verschwörung gegen Hitler informiert. Er stellte die Verbindung zwischen der militärischen Opposition in Paris und Berlin her. Auch er wurde am 30. August 1944 vom Volksgerichtshof zum Tode verurteilt und am 20. Dezember desselben Jahres in der Haftanstalt Berlin-Plötzense hingerichtet.

Karl-Friedrich Klausing war Stauffenbergs Begleiter bei den Attentatsversuchen im Vorfeld des 20. Juli. An diesem Tag war er für die Übermittlung der Walküre-Befehle mitverantwortlich, mit denen die erfolgreiche Durchführung des Attentats gemeldet und militärische Maßnahmen zur Sicherung des Staatsstreichs eingeleitet werden sollten. Am 8. August vom Volksgerichtshof zum Tode verurteilt, fand noch am selben Tag seine Hinrichtung statt.

Die Brandmarkung der Widerständler als Vaterlandsverräter, die die Propaganda der untergehenden NS-Diktatur durchzieht, ließ sich nach dem Krieg im Bewusstsein vieler Menschen nicht leicht überwinden.

Um so mehr lag der deutschen Zeitgeschichtsforschung nach 1945 daran, den Widerstand gegen Hitler zu rehabilitieren. Die Folge war, dass sowohl in der Geschichtsschreibung wie auch in der Politik der 20. Juli lange Zeit recht einseitig interpretiert wurde.

Man erklärte Graf von Stauffenberg und seine Verbündeten ohne weiteres zu Repräsentanten des Nachkriegsdeutschlands; so, als hätten die Widerständler gegen den Diktator Hitler die Ideale der kommenden Bundesrepublik vertreten. - Nein, es waren keine lupenreinen Demokraten. Der Staatstreich vom 20. Juli war nicht der Ursprung der Bundesrepublik. Hinzu kommt, dass in dem Bemühen um Rehabilitierung die Nähe mancher Widerständler zum NS-Regime in den ersten Kriegsjahren weitgehend unbeachtet blieb.

Dies gilt auch für Heinrich von Stülpnagel, der 1941 Oberbefehlshaber der 17. Armee
in der Ukraine gewesen war und in dieser Funktion für rücksichtslose Kriegsführung verantwortlich gemacht wird. Stülpnagels militärische Vergangenheit löste in den 90er Jahren einen heftigen Konflikt zwischen Außenstehenden und der Schulgemeinde des Lessingymnasiums aus, das den Widerständler bis zum Bekanntwerden der Vorwürfe in der Aula der Schule mit seinem Porträt neben den Abbildungen von Cäsar von Hofacker und Karl-Friedrich Klausing geehrt hatte.

In den Augen vieler war der spätere Widerständler nicht länger ehrwürdig.

Während der Gedenkveranstaltung zum 60. Jahrestag in der Paulskirche hat Joachim Fest gesagt,  dass der Staatsstreich-Versuch für die Deutschen keine „einigende Erinnerung“ darstellen würde.

Die moralischen Bewertungen gingen zu weit auseinander.Festzuhalten bleibt, dass sie Widerstand leisteten. Festzuhalten bleibt, dass sie ihr Leben riskierten und opferten.

Untersuchungen lassen ein breites Motivbündel der militärischen Verschwörer erkennen, das schon vor dem Krieg bestand und schließlich am 20. Juli 1944 zum versuchten Tyrannenmord führte.

Nicht selten kamen Beweggründe hinzu und begann sich das Gewissen – bei den durch den Eid gebundenen Militärs unter schweren inneren Kämpfen – zu regen, als ihnen deutlich wurde, dass das Regime seine politischen Ziele durch mörderische Bosheit zu erreichen suchte und das Vaterland darüber zugrunde ging.

Erst dann - aber dann mit allen Risiken und Konsequenzen - waren manche von ihnen zum Staatsstreich bereit.

Die Verdienste der Männer und Frauen des 20. Juli stehen fest und bedürfen keines Verschweigens
der genannten fragwürdigen Aspekte.

Hinzufügen möchte ich, dass sich das Lessinggymnasium im Anschluss an den Streit um die Ehrung Heinrich von Stülpnagels auf den Weg einer differenzierten Auseinandersetzung mit dem militärischen Widerstand am Beispiel seiner ehemaligen Schüler machte.

Die Resultate hat es in Form einer Ausstellung präsentiert. Diese wurde anlässlich des 60. Jahrestags des 20. Juli im Jahr 2004 in der Schule gezeigt und war danach auch in der Paulskirche zu sehen.

Der Widerstand war nicht auf das Offizierskorps beschränkt.

Viele Menschen konnten das Grauen nicht ertragen: Sie versteckten Verfolgte, steckten Zwangsarbeitern ein Stück Brot zu, kauften bei den Verfemten ein, grüßten die Menschen mit dem Stern auf der Brust.

Viktor Klemperer berichtet davon immer wieder in seinen Tagebüchern.

Es sind die „unbesungenen Helden“ des nationalsozialistischen Alltags: von den Edelweißpiraten über die „weiße Rose“ bis zu Georg Elser, Kardinal von Galen oder Julius Leber.

Susanne Keval, eine historische Expertin für den Widerstand, hat für Frankfurt über 1400 Personen zusammengezählt, die nach 1933 an Aktionen gegen die Boykott-Hetze und Ausgrenzungspolitik, Säuberungen und Gleichschaltung des Lebens unter nationalistische, rassistische und kriegerische Ideologie beteiligt waren.

Sie berichtet über Formen des Widerstands in der sozialistischen Jugend und in der Frankfurter Zeitung, bei dem Karnevalsverein der Hedderheimern Käwwern, bei den Nerother Wandervögeln wie bei der Jazzjugend.

Oft handelte es sich bei den Widerständlern um Mitglieder der Arbeiterjugend. Aber auch das Bürgertum nahm nicht alles hin.

Als im Dezember 1937 Bernhard Becker, der wegen seiner Überzeugungsarbeit in katholischen Jugendgruppen von der Gestapo verhaftet worden war, durch Folter in den Tod getrieben wurde,  machte Pastor Alois Eckert von der Bernardus-Gemeinde in Bornheim das Begräbnis auf dem Hauptfriedhof vor 1000 Menschen zu einer Demonstration gegen das Regime.

Im Standardwerk der Frankfurter Biographie heißt es: „mutig trat der Pfarrer dem Nationalsozialismus entgegen“. An Bernhard Becker, der Städelschüler war, erinnert ein farbiges Mosaik, das er entworfen hatte und das am Domplatz eine Hauswand ziert.

Die Stadt Frankfurt hat zwischen 1991 und 1995 insgesamt 145 Menschen für ihr Aufbegehren in jenen 12 Jahren geehrt. Sie wurden mit der Johanna-Kirchner-Medaille ausgezeichnet, die nach der Sozialdemokratin Johanna Kirchner benannt ist, die selbst Elenden geholfen, sich um Verhaftete gekümmert und Verfolgten Zuflucht gewährt hatte.

Auch Johanna Kirchner verlor 1944 in Berlin-Plötzensee ihr Leben unter dem Fallbeil.

Mit den Beispielen, die ich genannt habe, möchte ich nicht den Eindruck erwecken, dass Frankfurt eine Stadt des politischen Widerstands war.

Sicher nicht!


Aus anderem Grund ist es wichtig, an viele Beispiele zu erinnern, an den Widerstand in allen Schichten des Volkes und in den vielfältigen Formen.

Es geht darum, die Vorbildlichkeit dieses Verhaltens zu würdigen.

Im Museum Judengasse in Frankfurt wird zurzeit (24. April – 31. August) die Ausstellung „Vater Courage – Oskar Schindler unerkannt in Frankfurt“ gezeigt.

Im Rahmen dieser Ausstellung organisiert das Institut für Stadtgeschichte am 20. August eine Erzählcafé-Veranstaltung mit Eugen Kahl, dem Sohn des Arztes Fritz Kahl, der in Bockenheim eine Praxis hatte. Sie trägt den Titel: „Gefährdende Hilfe“. Im Jahre 1941 behandelte Fritz Kahl gegen die Warnung der Ärztekammer jüdische Patienten.

Die Mutter trug heimlich Lebensmittel zu jüdischen Familien, die wegen der spärlichen Zuteilungen hungerten. Trotz der Gefahren, denen die Familie ausgesetzt war, versteckten die Eltern in ihrer Wohnung in der Blanchardstraße einen aus dem Konzentrationslager Maidanek entflohenen jüdischen Häftling und organisierten für ihn und seine Verlobte die Flucht in die Schweiz.

Fritz Kahl ist in Frankfurt wenigen bekannt. Im Jahr 2006 nahmen die Söhne Eugen und Gerhard Kahl die höchste Auszeichnung entgegen, die der Staat Israel an Nichtjuden vergibt, und die seine Eltern als „Gerechte unter den Völker“ ehrt.

Wer unter einem totalitären Regime gelebt hat, wird verstehen, wie viel Mut und innere Kraft nötig ist,  um den Machthabern einer Diktatur zu widersprechen.

In der freiheitlichen Demokratie ist das zum Glück anders.

Dennoch ist auch hier die Wachsamkeit gegenüber neuen Gefahren keineswegs überflüssig geworden.

Gefordert ist Mut zum Widerspruch, die Bereitschaft, schon den Anfängen neuer extremistischer Tendenzen entgegenzutreten - seien sie linker oder rechter Provenienz.

Widerspruch erfordert auch in der Demokratie Zivilcourage.

Diese zu fördern ist ein ursprüngliches und ständig zu erneuerndes Anliegen der Demokratie.

Im Jahre 1964 wurde das Denkmal an der Paulskirche enthüllt, das den Opfern der Gewalt im Nationalsozialismus gewidmet ist. Damals fand im Bürgerhaus Gallus der erste Große Auschwitz-Prozesses in Frankfurt statt, der durch die Initiative des Hessischen Generalstaatsanwalts Fritz Bauer zustande gekommen war.

Zur Zeit des Prozesses initiierte Fritz Bauer auch eine Ausstellung über das Konzentrationslager Auschwitz. Der Ort für die Ausstellung war mit Bedacht gewählt, es war die Wandelhalle der Frankfurter Paulskirche.

Der Publizist und Politikwissenschaftler Eugen Kogon, selbst ein ehemaliger KZ-Häftling, hielt die Eröffnungsrede. Für Kogon war die Demokratie notwendig verbunden mit der Dokumentation der Verbrechendes nationalsozialistischen Deutschlands und den daraus resultierenden Aufgaben
künftiger Gesellschaftsgestaltung.

Ich zitiere:
„Die Aufzeichnungen und Dokumente können, wenn sie richtig gelesen werden, den Weg in eine menschlichere Zukunft weisen.“ (Abgedruckt in FAZ vom 20. Nov. 1964)

Wie am Prozess nahm die Bevölkerung auch an der Ausstellung äußerst regen Anteil. Viele Schulklassen wurden in die Paulskirche geführt. Anschließend ging die Ausstellung nach Stuttgart,  München, Hannover, Düsseldorf, Bremen, Kiel, Berlin und Wien. Damals gelang es, dass die justizielle Aufarbeitung des Massenmordes zusammen mit der Ausstellung und den vielen Presseberichten zu einem Stück gesellschaftlicher Selbstaufklärung wurde.

Meine Damen und Herren, den Anfängen von Unfreiheit, Rechtsbruch und Menschenverachtung entschieden entgegenzutreten - das ist die Aufgabe, die uns die Tradition der Paulskirche mitgibt.

Diese Einsicht umzusetzen in tagtägliches Handeln - dazu verpflichtet uns die Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus, die durch ihre Herkunft, ihren Glauben, ihre politische Überzeugung zum Freiwild für Verleumdung, Verfolgung und Vernichtung wurden.

Zugleich wollen wir denen danken, die Gefängnis, Konzentrationslager und Tod riskierten.

Ihr Mut und ihre Entschlossenheit konnten durch die fast allmächtige Diktatur nicht unterdrückt werden.

Mit ihrem Vorbild tragen sie dazu bei, dass sich nicht wiederholen soll, wovor der Vers von Ricarda Huch am Ehrenmal für die Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft am Gefängnis In Frankfurt Preungesheim warnt:


„Ihr, die Ihr das Leben gabt für des Volkes Freiheit und Ehre, nicht erhob sich das Volk, Euch Freiheit und Ehre zu retten.“

Wir verneigen uns vor ihnen in Ehrfurcht.