„Der Riß der Welt geht auch durch mich“, schrieb Siegfried Kracauer 1923 an Theodor W. Adorno, dabei Heinrich Heines Klage über die Zerrissenheit der Welt paraphrasierend. Heute ist der Riss omnipräsent und verweist nicht allein auf Ich und Welt, sondern vielmehr noch auf die Gesellschaft mit ihren Krisen und Katastrophen. Risse entstehen dort, wo Fundamente brüchig werden und Extreme sich bilden. Sie sind eine vielschichtige Metapher für disruptive Prozesse im Geopolitischen, Gesellschaftlichen und Biografischen. Von ihnen weiß in besonderem Maß auch die Gegenwartsliteratur.
Den tiefsten Riss unserer Zeit aber markiert der 24. Februar 2022. Ein Weckruf auch für uns. Mit dem diesjährigen Fokus auf die Literatur Mittel- und Osteuropas haben wir unserem Programm eine neue Richtung gegeben. Wir sind dankbar, dass wir renommierte Autor:innen aus der Ukraine, aus Russland, Belarus, Bulgarien, Albanien, Polen und Ungarn zu Gast haben. Sie sind nicht nur bis in das eigene Leben hinein mit den Folgen des Krieges konfrontiert, sondern sie wissen auch um die Nachbeben des radikalen Systemwechsels, der 1989/90 einsetzte. In unserer bundesdeutschen Gesellschaft hingegen zeigen sich Risse im Verhältnis zwischen sozialen Schichten und den Geschlechtern, zwischen Ost- und Westdeutschland oder in der historischen Einordnung des Holocausts. Und im Biografischen gibt es wohl keine größere Zäsur als Flucht und Exil. Risse beschreiben aber auch ein ästhetisches Phänomen, für das wir bei literaTurm 2022 prägnante Beispiele aus der Gegenwartsliteratur vorstellen. All diese Aspekte unseres diesjährigen Mottos werden wie gewohnt vor allem im interdisziplinären Austausch zwischen Schriftsteller:innen und Wissenschaftler:innen diskutiert. Dies alles wäre in Umrissen unser Programm – viel Freude bei seiner Entdeckung!
Dr. Sonja Vandenrath
Programmleitung