Konzept

Jeder Mensch hat ein Leben, doch nicht jedes Leben wird zur Biografie. Erst der Biograf überführt den Werdegang von Kaiserinnen und Kanzlern, Komponisten und Kurtisanen aus der Chronologie in die Erzählung. Dass er um das Ende seiner Protagonisten weiß, verleiht ihm die Souveränität, einen Lebens weg neu und anders zu entfalten. Dies eröffnet einen großen Erzählraum, der an historischen Personen einlädt, ein ganzes Zeitalter zu besichtigen. Als Chronist den Fakten und als Erzähler dem Leser verpflichtet, kennt der Biograf nur zwei Todsünden: die Lüge und die Langeweile. Kluge und meisterhaft erzählte Lebensgeschichten, wie sie jüngst in einer erstaunlichen Anzahl erschienen sind, erinnern an das trompel’oeil einer jeden Biografie: „Die Suggestion der Echtheit wird zugleich vorgeführt und entlarvt“, so die Historikerin Barbara Stollberg-Rilinger.

Warum aber Biografien gerade jetzt eine Renaissance erleben,kann nur vermutet werden. Vielleicht liegt es an ihrer Eigenart, dem Denken und Handeln des Porträtierten das zu verleihen, was in der „Gesellschaft der Singularitäten“ (Andreas Reckwitz) als Kardinaltugend gilt: Einzigartigkeit. Der Mensch von heute, der vor allem besonders und unverwechselbar sein will, kuratiert seine eigene Geschichte. Nichts anderes als ein solcher Kurator ist der Biograf, der einen Lebensweg nicht erfindet, sondern recherchiert, arrangiert und in ein Narrativ fügt. Stets gilt dabei: ohne Archive keine Exegese und ohne Imagination kein Erzählfluss.

Auch Schriftstellern, diesen Experten der Imagination, dient das eigene Leben oder dasjenige berühmter Künstler als Stoff. Wenn sie einen Roman über die großen Meister schreiben, dann aus einer Nähe heraus, die der Text inszeniert. Ob Gerhart Hauptmanns letzte Lebensjahre, Eduard von Keyserlings Berufung zum Dichter oder der Verfall des legendären Beatpoeten Jack Kerouac – die biografischen Erzähler von heute kriechen ihren Figuren regelrecht unter die Haut. Fließen dagegen die „süßen und bitteren Tropfen“ (James Baldwin) eigener Erfahrungen und Erlebnisse in einen Roman hinein, dann verschmelzen Autor und Figur. Eine solche autofiktionale Prosa, zu der sich etwa Ulrike Edschmid, Felicitas Hoppe, Andreas Maier, Linn Ullmann und Josef Winkler bekennen, bewegt sich zwischen den Gattungen Autobiografie und Roman, ohne jemals ihren genuin literarischen Charakter einzubüßen. Wer schließlich die Deutungshoheit über das eigene Leben wahren will, der schreibt seine Memoiren. Dass auch sie zwischen Dichtung und Wahrheit changieren, ist seit Goethe unbestritten. Die Biografie als Sachbuch, die Autobiografie und autofiktionale Prosa sowie Künstlerromane stehen im Zentrum des Festivals literaTurm 2018, das sich mit diesem Thema wie nie zuvor im Zwischenreich von Fiktion und Realität bewegt.

Dr. Sonja Vandenrath
Festival- und Programmleiterin