Konzept

„Das weiße Kaninchen setzte seine Brille auf. ‚Mit Verlaub, wo darf ich anfangen, Eure Majestät?‘, fragte es. ‚Fang am Anfang an‘, sagte der König sehr würdevoll, ‚und dann lies weiter, bis du ans Ende kommst, dann hör auf.‘“ Literarische Texte, das weiß der König in „Alice in Wunderland“, haben einen Anfang und ein Ende. Ihre Zeilen folgen der Linearität der Zeit. Doch im Unterschied zur „Echtzeit“ ist die temporale Ordnung der Literatur frei und spielerisch, den Gesetzen der Kunst verpflichtet und denen der Physik weitgehend enthoben. Im literarische Modus des „Als-ob“ wird das Vergangene gegenwärtig und das Künftige zum Gewesenen. Selbst die Maxime eines Anfangs und eines Ende, an die noch der König aus „Alice“ glaubt, ist im Zeitalter des offenen Kunstwerkes suspendiert. „Angefangen wird mittendrin“, nannte Ulrich Peltzer seine Frankfurter Poetikvorlesungen. Die Zeit als Stoff, als Form sowie als Objekt der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur steht im Zentrum von literaTurm 2014.

Dass literarische Texte unendlich verstrickt mit der Zeit sind, wissen wir spätestens seit Lessing. Die Literatur, so das erzähltheoretische Paradigma, speichert, materialisiert und modelliert Zeit. Sie macht sichtbar, was sich jenseits des Tickens der Uhr abspielt, und konstruiert komplexe Zeitordnungen, die autonom und real zugleich sind. Und wie steht es um die Zeit in der Literatur? Sie erzeugt Rhythmus und Takt, ist Objekt der Reflexion, birgt Geschichten und strukturiert den Plot. Zeitsprünge, -raffungen, -stillstand und -dehnungen, die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen sowie die Verschachtelung von temporalen Ebenen konstituieren literarische Eigenzeit.

Doch wie verhält es sich mit der Reziprozität von Zeit und Literatur in einer – wie jüngst wieder Aleida Assmann schrieb – polychronen Moderne, in der das lineare Zeitmodell des Kontinuums in unendlich viele Eigenzeiten zerfällt? Wie lässt sich Zeit literarisch figurieren, wenn das Internet und die visuellen Medien zeitliche Differenzen außer Kraft setzen? Ist die Suche nach der verlorenen Zeit nicht längst abgeschlossen und Temporalität zumindest im avancierten Gegenwartsroman zersplittert in ein dissonantes Tableau aus unendlich vielen Eigenzeiten, die sich einer Rekonstruktion weitgehend entziehen? Sind diese zeitlichen Ordnungen Ausdruck der Kapitulation vor heterogenen Zeitmodellen, deren physikalische Eigenschaften selbst Wissenschaftler nicht mehr verstehen? Und soll die Literatur einem Beschleunigungsdiktat (Hartmut Rosa) folgen, das ökonomische Transaktionen in Nanosekunden absolviert? Welche Wahrheit von Zeit kann die Gegenwartsliteratur also heute noch eröffnen?

Fragen, die zeigen, dass der radikale Wandel des Zeitverständnisses auch in seiner Wechselwirkung zur Literatur neu ausgelotet werden muss. Und dies nicht, um nach post-postmodernen Beschleunigungsromanen zu fahnden oder gar einem „time turn“, wie ihn großangelegte Forschungsprojekte behaupten,* zu sekundieren. Statt uns mit Metadiskursen zu beschäftigen, legen wir es auf die Praxis der literarischen Inszenierung und Darstellung von Zeit aus der Perspektive von Schriftstellern und Wissenschaftlern an. Podiumsdiskussionen über den Wandel von Zeitvorstellungen, die Ästhetik der Zeit und den Science-Fiction-Roman arrondieren das Programm.

Da jedoch die Zeit für Musik und Film ebenso fundamental ist wie für die Literatur, haben wir uns entschieden, literaTurm zu öffnen. Das Ensemble Modern entwickelt gemeinsam mit dem Schriftsteller Ingo Schulze ein Lesungskonzert, in dem sie die Zeit mit ihren jeweiligen künstlerischen Mitteln einfangen. Daneben bieten wir eine Gesprächsreihe mit Komponisten und Dichtern, die über Analogien und Differenzen im Umgang mit der Zeit diskutieren. Die Ästhetik der Zeit steht ebenso im Zentrum einer langen Filmnacht, die im Deutschen Filmmuseum stattfinden wird.

Dr. Sonja Vandenrath
Leitung literaTurm

 

 

(*) Ästhetische Eigenzeiten. Zeit und Darstellung in einer polychronen Moderne, DFG-Projekt 2014.