Intro

 

Liebe, Hass, Melancholie, Sehnsucht und Begierde bieten ein schier unerschöpfliches Reservoir an literarischen Stoffen. Den Gefühlen aber ist die Literatur ein Akt der Rationalisierung sowie eine Membran ihrer Ambivalenzen. Dabei gehört zu den Binsenweisheiten der Literaturtheorie, dass Literatur und Gefühl kein synchrones, sondern ein konsekutives Verhältnis bilden. Schon die „Xenien“ warnten davor, „mitten im Schmerz den Schmerz zu besingen“ und Roland Barthes statuiert: „Das liebende Subjekt kann seinen Liebesroman nicht selbst schreiben“. Vielmehr erfährt die Mär, der Dichter artikuliere im Akt des Schreibens sein tiefstes Innerstes, im 18. Jahrhundert eine höchst produktive Inversion. Dem schreibenden Menschen führen nicht die Affekte die Feder, vielmehr erzeugt die Kälte seiner Beobachtung im Akt des Schreibens kalkulierte Gefühle, die der lesende Mensch in umgekehrter Richtung dekodiert und temperiert. Derart erschafft die Literatur ihr eigenes Gefühlsregister, das in die Alltags- und Trivialkultur einsickert. „Kalkül und Leidenschaft“ (Joseph Vogl) bilden schon im 18. Jahrhundert die zwei Seiten einer Medaille und prägen bis heute die zwischen Symbiose und Vivisektion changierende Beziehung zwischen Literatur und den Gefühlen. Diesen intimen Banden, die sich allen Dekonstruktionen zum Trotz als stabil erweisen, widmen wir literaTurm 2012.