Donnerstag, 29.5.

 

Drei Schritte von der Herrlichkeit (Deutsche Bank, »Schwarzer Turm«, 19:00 Uhr)
Lesung mit Arno Orzessek
Moderation Thomas Wegmann (Humboldt-Universität Berlin)

Wie bereits in seinem Debütroman »Schattauers Tochter« hat Arno Orzessek auch in »Drei Schritte von der Herrlichkeit« der deut schen Geschichte eine Hauptrolle gegeben. Schon im ersten Bild des Romans sieht man den schwarz-rot-gold befl aggten Reichstag – allerdings aus den Fenstern der Urologiestation der Charité. Die Geschichte der Cousins Max, Paul und Albert beginnt in einer Krise. Indem Orzessek ihr Leben – vor allem ihr Liebesleben – durchleuchtet, entsteht ein ungewöhnliches deutschdeutsches Panorama. Obwohl im Westen geboren, erzählt der Autor vom Alltagsleben in der DDR, vor allem aus der Perspektive des jungen Paul, der sich als Elfjähriger 1974 unsterblich in seine »Zonen-Cousine« Almuth verliebt. Je weiter der historische Horizont auf reißt, desto klarer wird, dass deutsch-deutsche Geschichte nicht auf die Zeit von 1949 –1989 zu begrenzen ist. »Drei Schritte von der Herrlichkeit« ist ein Roman über körperliche, psychologische und gesellschaftliche Verwandlungen – und über ihre Wechselwirkung. Mit Orzessek ist einer der interessantesten Nachwuchsautoren seiner Generation zu entdecken.

Posthum entdeckt: »Leben und Schicksal« von Wassili Grossman (Naxosgelände, 19:00 Uhr)
Olga Martynova und Oleg Jurjew stellen das Epos vor
Moderation Alf Mentzer (hr2-kultur)

»Leben und Schicksal« des sowjetischen Autors Wassili Grossman (1905–1964) ist 2007 erstmalig als ungekürzte Fassung in Deutsch erschienen. Bislang so gut wie unbeachtet kam diese Neuausgabe einer Sensation gleich. Die Kritik rief den Roman zum wichtigsten literarischen Zeugnis der faschistisch-stalinistischen Epoche aus. Von 1943 bis 1960 arbeitete Grossman an dem Werk, das Tolstojs »Krieg und Frieden« ebenbürtig sein sollte. Zu Lebzeiten des Autors verboten und auf abenteuerlichen Wegen aus der Sowjetunion geschmuggelt, erreicht es in Russland heute Massenaufl agen. »Leben und Schicksal« ist nicht zuletzt das Dokument der bitteren Desillusionierung eines assimilierten, den »revolutionären Werten« verpfl ichteten Sowjetbürgers jüdischer Herkunft. Er, der als Kriegsreporter im »großen vaterländischen Krieg« Terror, Gewalttaten und ethnische Säuberungen auf beiden Seiten der Front erlebt hatte, konnte nicht anders, als die Diktaturen ineinander zu spiegeln. Der Leser ahnt, dass die Gräuel auf deutscher wie sowjetischer Seite sich näher waren, als viele bis heute wahrhaben wollen. Die aus Russland stammenden und heute in Frankfurt lebenden Schriftsteller Olga Martynova und Oleg Jurjew stellen Wassili Grossmans »Leben und Schicksal« vor.

Böse Schafe (IG Metall – MainForum, 19:00 Uhr)
Lesung mit Katja Lange-Müller
Moderation Ina Hartwig (Frankfurter Rundschau)

Mit der DDR ging das alte West-Berlin unter. In den achtziger Jahren war es schon nicht mehr die symbolisch aufgeladene Frontstadt des Kalten Krieges, sondern ein Refugium »der Taugenichtse und des Laissez-faire«. Diesem Biotop im Schatten der Mauer hat Katja Lange-Müller eine anrührende Geschichte gewidmet: 1986 treffen Soja und Harry am Nollendorfplatz aufeinander. Sie, eine frisch aus dem Ostteil übergesiedelte »Plebejerin«, und er, der HIV-infi zierte Junkie mit verkorkster Knastbiographie, schlagen sich fortan gemeinsam durchs Leben. 1990, nach dem Fall der Mauer und Harrys Tod, blickt Soja zurück auf die Schauplätze ihrer Beziehung; die verschlampten Parterrewohnungen, verrauchten Szenekneipen und halbesoteri schen Gruppentherapien. Doch in diesem Mikrokosmos zwischen Moabit und Kreuzberg lag eben auch das Glück. Katja Lange-Müller hat einen hinreißenden Nachruf auf eine Stadt(-hälfte) geschrieben, deren nächtliches Licht den Osten weit überstrahlte.

In der Familie lesen wir die Zeit (Dresdner Bank, 20:00 Uhr)
Gespräch und Lesung mit Julia Franck und Arno Geiger
Moderation Denis Scheck (Deutschlandfunk)

Julia Franck und Arno Geiger verbindet mehr als der Deutsche Buchpreis. Sie gehören der selben Generation an und haben in ihre preisgekrönten Werke »Die Mittagsfrau« (Franck 2007) und »Es geht uns gut« (Geiger 2005) die eigene Familiengeschichte einfl ießen lassen. Ihre das 20. Jahrhundert spiegelnden Romane sind herausragende Beispiele für den Trend der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, die Vergangenheit anhand von »Generation « und »Familie« zu deuten. Statt im Zorn zurück zublicken, dominiert den neuen Generationenroman die Vorstellung eines immateriellen Erbes, dem sich selbst die Enkel nicht entziehen können. Historiker, hat Arno Geiger einmal gesagt, berichten von etwas, was vergangen ist, der Schriftsteller kann es momenthaft zurückbringen. Über die Möglichkeit der Fiktion, das Vergangene in die Gegenwart zu holen, und über das ungebrochene Interesse von Autoren wie Lesern an Familiengeschichte und -geschichten diskutieren Julia Franck und Arno Geiger mit Denis Scheck.

Havemann (MesseTurm Meeting & Events, 20:00 Uhr)
Lesung mit Florian Havemann
Moderation Dieter Simon (Humboldt-Universität Berlin)

Zwischen historischem Sachbuch und Familienroman oszilliert das skandalisierte Debüt von Florian Havemann. Im Zentrum steht sein Vater Robert Havemann, ein im Westen prominenter DDR-Dissident. 25 Jahre nach seinem Tod zweifelt sein Sohn dessen politische wie persönliche Glaubwürdigkeit an. Eigene Erfahrungen, Gerüchte und Unterstellungen werden so kombiniert, dass das Bild vom Regimekritiker deutliche Risse bekommt. Einen besonderen Reiz des Buches aber machen Schilderungen der sogenannten »Stalinallee-Aristrokratie« aus, einem Kreis aus prominenten Intellektuellen und Künstlern in der DDR, dessen Mittelpunkt die Havemanns bildeten. Die erste Auflage des Buches musste vom Suhrkamp Verlag nach Klagen wegen »übler Nachrede« (»Der Spiegel«) vom Markt genommen werden. Florian Havemanns Versuch, die Familienbiographie als Roman zu deklarieren, hat dies nicht verhindert. Die Grauzone zwischen Geschichte und Fiktion lässt sich an diesem Beispiel exemplarisch diskutieren.

Geschichte und Geschichten vom Bosporus (schauspielfrankfurt, 20:30 Uhr)
Türkischer Abend mit Mario Levi und Zülfü Livaneli
Moderation Peter Ripken (Frankfurter Buchmesse)
Sprecher Jochen Nix

Istanbul atmet Geschichte, nicht zuletzt, weil es die Nahtstelle zwischen Europa und Asien bildet. Ein besonderes Geschichtsbewusstsein spiegelt sich auch in den Romanen der beiden türkischen Autoren wider, die auf je eigene Weise Schicht um Schicht das freilegen, was eine der weltweit faszinierendsten Metropolen ausmacht. Der Abend schlägt eine Brücke zur Frankfurter Buchmesse im Oktober, bei der die Türkei Ehrengast sein wird.

Le rapport de Brodeck (Deutsche Bank, »Schwarzer Turm«, 20:30 Uhr)
Lesung und Gespräch mit Philippe Claudel und Philippe Mesnard
Moderation Michaela Heinz (Friedrich-Alexander-Universität Erlangen)

»Dunkel, geheimnisvoll, atemberaubend, spannend, dabei von be stechlicher sprachlicher Eleganz« (Elke Heidenreich in »Lesen«): »Die grauen Seelen« von Philippe Claudel war die Sensation des französischen Bücherherbstes 2003 und stand monatelang auf Platz 1 der Bestsellerliste. Mit »Le rapport de Brodeck« legt Claudel nun erneut einen Roman vor, der mit präzise gezeichneten Figuren und Bildern von symbolischer Kraft den Schatten des Krieges nachspürt. Die Veranstaltung findet in französischer Sprache mit Übersetzung ins Deutsche statt.

Heimsuchung (Naxosgelände, 20:30 Uhr)
Lesung mit Jenny Erpenbeck
Moderation Dagmar Borrmann (Hessisches Staatstheater Wiesbaden)

In unberührter Landschaft an einem See im Märkischen baut ein Berliner Architekt in den dreißiger Jahren ein Sommerhaus. Hier »gehen die Jahre und sind wie ein Jahr«. Doch die scheinbar zeitlose, den Regeln der Natur unterworfene Idylle währt nur solange die politischen Verhältnisse es zulassen. Die Heimstatt am See ist eine auf Widerruf. Die weiteren Lebenswege derer, die hier glückliche Zeiten erlebten, verlieren sich in der Emigration, den Vernichtungslagern, der Flucht in den Westen und der Wiedervereinigung. Dem Haus am Scharmützelsee, in dem Jenny Erpenbeck, Enkelin der 1952 aus dem Exil heimgekehrten Schriftstellerin Hedda Zinner und des Chefdramaturgen der Berliner Volksbühne Fritz Erpenbeck, viele Sommer ihrer Kindheit verbrachte, hat sie einen Roman mit fontaneschem Zauber gewidmet. Die reale Geschichte Ostdeutschlands ist subtil eingeflochten, oft nur angedeutet und bricht doch unerbittlich in das Leben der Menschen ein. »Heimsuchung« war für den Leipziger Buchpreis des Jahres 2008 nominiert.

Wäre es schön? Es wäre schön! oder Die frühe DDR als Möglichkeitsraum (IG Metall – MainForum, 20:30 Uhr)
Lesung und Gespräch mit Irina Liebmann und Andrew Ian Port (Wayne State University)
Moderation Frauke Meyer-Gosau (Literaturen)

Über »Herrnstadt« schreibt sie in der dritten Person. Dabei ist der jüdische Kommunist und Journalist Rudolf Herrnstadt (1903–1966) ihr Vater. Für das Buch, in dem sie sein für Visionen wie Irrtümer des 20. Jahrhunderts exemplarisches Leben erzählt, hat Irina Liebmann den Leipziger Buchpreis 2008 erhalten. Nach der Rückkehr aus dem Exil in Moskau gründete Rudolf Herrnstadt, einer der wenigen Charismatiker im ersten Politbüro der DDR, das »Neue Deutschland«. Mit dem Leitorgan der SED begleitete er ein herausragendes Wiederaufbauprojekt der Arbeiter- und Bauernrepublik: Die Stalin allee, die erste sozialistische Magistrale Deutschlands, errichtet auf meterhohen Trümmerbergen. »Neuer Staat – neues Haus – neue Menschen«, so zitiert ihn seine Tochter und lässt Herrnstadts ansteckende Begeisterung spüren. Doch Walter Ulbricht erzwang eine rein stalinistische Architektur. Das Ideal verkümmerte in der Kleingeisterei: »Ein mit Meißner Porzellan gefliestes Denkmal. Von Anfang an fielen die Fliesen ab, von Anfang an lachte alles darüber. […] Diese Straße war uns immer peinlich gewesen«, schreibt seine Tochter. Irina Liebmann wird aus »Wäre es schön? Es wäre schön!« lesen und mit dem amerikanischen Zeithistoriker Andrew Ian Port über Herrnstadt und die politischen Realitäten der frühen DDR-Zeit sprechen.