Freitag, 30.5.

 

Oktober und wer wir selbst sind (BHF-BANK, 19:00 Uhr)
Lesung mit Peter Kurzeck
Moderation Ulrich Sonnenschein (hr2-kultur)

»Peter Kurzeck schreibt um sein Leben«, so formulierte es einmal ein Kritiker. »Gegen den Tod und das Vorrücken der Zeit ankämpfend, versucht er, noch die fernsten Details seiner Jugendgeschichte ans Licht zu ziehen und so zu retten.« Seine Romane sind ein fortlaufendes Werk der Selbstversicherung im Vergangenen. Die Jugend in einem hessischen Dorf, das Leben im Frankfurter Bahnhofsviertel und in Frankreich schildert Kurzeck in einer eigenwilligen, Wort um Wort genau gewählten Sprache, die sich einer handlungsbetonten Festlegung immer wieder entzieht. Hier werden Lebensgeschichte und Zeitgeschichte gleichermaßen Literatur.

Aus dem Wartheland nach Westfalen – Die Vertriebenen in der BRD (IG Metall – MainForum, 19:00 Uhr)
Lesung und Gespräch mit Hans-Ulrich Treichel und Andreas Kossert (Deutsches Historisches Institut Warschau)
Moderation Katja Stopka (Zentrum für zeithistorische Forschung Potsdam)

Flucht und Vertreibung, Traumata der deutschen Nachkriegszeit, wurden lange verdrängt und verschwiegen. In »Kalte Heimat« (2008) demontiert der Historiker Andreas Kossert die Adenauersche Erfolgsgeschichte von der reibungslosen Eingliederung der 14 Millionen Vertriebenen aus dem Osten. Durch die bundesrepublikanische Gesellschaft der fünfziger Jahre ging ein tiefer Riss, den der wachsende Wohlstand nur langsam zu kitten vermochte. Den Anpassungszwang der Vertriebenen an die westdeutsche Nachkriegsgesellschaft hat Hans-Ulrich Treichel in eine zwischen Fiktion und Realität changierende Literatur überführt. Auch seine neueste Erzählung »Anatolin« handelt von einem durch Flucht und Vertreibung beschädigten Leben und seines geleugneten, aber immer präsenten Schmerzes. Zunehmend ironisch schildert er, wie ein Nachgeborener die mit der elterlichen Heimat verloren gegangene Familienbiographie sucht, von der die Eltern so beredt schwiegen. Diese Veranstaltung thematisiert paradigmatisch den unterschiedlichen Umgang von Historikern und Schriftstellern mit historischen Stoffen.

Verbrannte Bücher und vergessene Dichter (Frankfurter Allgemeinen Zeitung, 19:00 Uhr)
Lesung und Gespräch mit Volker Weidermann und Arno Lustiger
Moderation Hubert Spiegel (Frankfurter Allgemeine Zeitung)

Am 10. Mai jährte sich die Bücherverbrennung zum 75. Mal. Am Bebelplatz vor der Berliner Universität wie in vielen deutschen Universitätsstädten brannten in dieser Nacht die Scheiterhaufen. Im willfährigen Gehorsam schlossen sich der »Aktion wider den undeutschen Geist« Professoren, Bibliothekare und der Börsenverein an. Proteste gab es praktisch keine. Das »Tribunal« an allen, die für das freie Wort standen, besiegelte das Ende kultureller Freiheit in Deutschland. Der Feuilletonchef der »Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung« Volker Weidermann hat in seinem »Buch der verbrannten Bücher« die zutiefst erschütternden, in wenigen Momenten auch skurrilen Lebenswege der vierundneunzig Autoren porträtiert, deren Werke in den Flammen aufgingen. Viele von ihnen, die damals aus den Bibliotheken verschwanden, sind bis heute vergessen. Gemeinsam mit dem in Frankfurt lebenden Historiker Arno Lustiger wird er das Buch vorstellen.

Geschichte zwischen Wissenschaft und Fiktion (Stadtbücherei, 19:30 Uhr)
Podiumsdiskussion mit Felicitas Hoppe, Arno Orzessek, Konrad Jarausch (Zentrum für zeithistorische Forschung Potsdam) und Thomas Anz (Universität Marburg)
Moderation Hans Sarkowicz (hr2-kultur)

Der historische Roman boomt. Die nüchternen Fakten und Analysen der Geschichtswissenschaft werden mit Erfundenem verwoben. Geht es um Zeitgeschichte, spielen persönliche Erlebnisse der Großeltern- und Elterngeneration eine wichtige Rolle. Sie fließen in die Romane ein und lassen teils sehr suggestive Vorstellungen historischer Ereignisse entstehen. Zwischen wissenschaftlicher Rekonstruktion der Historie und ihrer Fiktionalisierung entwickelt sich eine regelrechte Deutungskonkurrenz. Doch interessiert die Wissenschaft überhaupt, wie die Belletristik Geschichte erzählt? Und was macht die Faszination von historischen Stoffen für Schriftsteller aus? Wie deutet die Literaturwissenschaft die Tendenz zum Rückblick? Über diese Fragen diskutieren die Schriftsteller Arno Orzessek und Felicitas Hoppe mit dem Literaturwissenschaftler Thomas Anz und dem Zeithistoriker Konrad Jarausch.

Auf den Spuren der afrikanischen Vorfahren (KFW Bankengruppe, 19:30 Uhr)
Lesung und Gespräch mit Aminatta Forna und Hans-Christoph Buch
Sprecherin Birgitta Assheuer

Es beginnt mit einem Brief. »Die Kaffeeplantage in Rofthane gehört dir. O yi di. Sie ist da«, schreibt der Cousin an Abie. Er bittet sie nicht, zurückzukommen – er verfügt es. Abie folgt dem Ruf, reist in das Land ihrer afrikanischen Vorfahren und trifft auf ihre Tanten, die Ehefrauen ihres verstorbenen Großvaters. Die vier Frauen beginnen zu erzählen. Aminatta Forna wirft in ihrem Romandebüt »Abies Steine« Licht auf die Geschichte Sierra Leones, auf die ihres Vaters, der als Freiheitskämpfer hingerichtet wurde, und auf ihre eigene. Ihr Gesprächspartner Hans-Christoph Buch hat in seinem Band »Black Box Afrika« Essays und Reportagen über Afrika versammelt.

Unsere Stadt – Frankfurt in vier Spaziergängen (Naxosgelände, 20:00 Uhr)
Lesung mit Katja Kupfer und Christoph Schröder

Mit der literarischen Moderne entstand der Typus des Flaneurs. Zwischen den hastenden Massen schlendernd, beobachtend und raisonnierend, liest er in den Straßen der Metropolen wie der Spaziergänger des 18. Jahrhunderts im Buch der Natur. Katja Kupfer und Christoph Schröder begeben sich auf die Fährten der urbanen Flaneure und durchstreifen ihre Heimatstadt Frankfurt mit einer Mischung aus Sympathie und Ironie. Sie scheuen nicht den Blick hinter die Kulissen, skizzieren den städtebaulichen Wandel und gehen auch dahin, »wo es wehtut«. Gerne wird Frankfurt mit Berlin verglichen – warum eigentlich? – und festgestellt, dass eine Sachsenhäuser Apfelweinwirtschaft den Vergleich mit einer Kreuzberger Szenekneipe nicht scheuen muss. Kupfers und Schröders Spaziergänge durch das »wahre« Frankfurt sind Entdeckungen für Einheimische wie für Auswärtige, ob sie nun aus Castrop-Rauxel oder aus Berlin stammen.

Das Alphabet der Zeit (Deutsche Bank, »Schwarzer Turm«, 20:00 Uhr)
Lesung mit Gerhard Roth
Moderation Uwe Wittstock (Die Welt)

»Die Erinnerung ist eine Fata Morgana in der Wüste des Vergessens.« Ein Satz, ein Buch. Er stammt von Gerhard Roth, neben Peter Handke der wohl bedeutendste österreichische Autor seiner Generation. Öffentliche Veranstaltungen mit ihm sind rar. Bei LiteraTurm stellt er sein großes autobiographisches Projekt »Das Alphabet der Zeit« vor. Der 1942 in Graz geborene Schriftsteller erinnert sich in »zumeist schwarz-weißen« Filmstreifen an die längst vergessen geglaubte Kindheit und Jugend: »Ich war schon über fünfzig Jahre alt, als die Erinnerung zurückkehrte, fast unwirklich und stückweise, als eine Ansammlung von Partikeln, Fragmenten, Kopffotografien und automatenhaften Kurzfilmen, als Stimmen und Déjà-vus.« Die Erinnerungssplitter mit ihrem frappierenden Detailreichtum fügen sich zu einer motivisch streng komponierten Erzählung zusammen, die Autobiographie ganz in Literatur überführt. »Wenn ich über diese Zeit schreibe, tauchen viele Einzelheiten auf, mag sein, dass es falsche Erinnerungen sind, aber selbst dann drücken sie etwas aus, das möglicherweise wichtiger ist als die vorgebliche Wahrheit …« (Gerhard Roth in »Das Alphabet der Zeit«).

Stille Post – Eine andere Familiengeschichte (BHF-BANK, 20:30 Uhr)
Lesung mit Christina von Braun
Moderation Ruth Fühner (hr2-kultur)

Christina von Braun hat mit »Stille Post« ein Buch geschrieben, das Autobiographie, Roman, Familienchronik und Geschichte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zugleich ist. Mit ihm geht die Berliner Kulturwissenschaftlerin und Nichte Wernher von Brauns einen neuen, einen ungewöhnlichen Weg, die Geschichte ihrer Familie zu erzählen: Statt den Memoiren ihres Vaters und Großvaters zu folgen, lauscht sie der »stillen Post«, die Großmutter und Mutter ihr sandten. »Liebe Großmutter«, heißt es an einer Stelle, »es ist schwer, etwas über die Zeit zu erzählen, die Du erlebt hast und in der es mich überhaupt noch nicht gab. Sieh es mir also nach, wenn ich einiges falsch berichte. So ist das mit den Geschichten, die man nicht selbst erlebt hat. Ich bewundere sehr die Arbeit von Historikern: Sie können ganze Biographien, Gefühle und Lebenswelten aus den Bildern, Akten und Schriftstücken rekonstruieren, die sie finden. Aber diese Dokumente erzählen uns nur einen Teil der Geschichte. Daneben gibt es noch so viele andere Erzählungen, die aus all dem bestehen, was verschwiegen wurde: Geheimnisse, Liebesgeschichten. Wer erzählt sie uns? Vielleicht Romanschriftsteller.«

Brennpunkte der Bewegung: Berlin, Frankfurt, Paris und New York (IG Metall – MainForum, 20:30 Uhr)
Lesung und Gespräch mit Peter Schneider, Barbara Schneider, Gerd Koenen und Malte Rauch
Moderation Lorenz Jäger (Frankfurter Allgemeine Zeitung)

’68 war nicht zuletzt eine Bewegung, die von den Universitäten auf die Straßen westlicher Großstädte drängte. Doch im gemeinsamen Kampf um gesellschaftlichen Wandel zeigten sich lokale Differenzen: Galt der Sozialistische Deutsche Studentenbund in Berlin als straff organisiert und marxistisch beeinfl usst, so dominierte in Frankfurt die Auseinandersetzung mit der Kritischen Theorie. Wie aber engagierten sich Studenten in Paris und New York? Peter Schneider gehörte zur Vorhut der 68er Bewegung in Berlin. In seinem jüngst erschienenen Buch »Rebellion und Wahn. Mein ’68« gibt er nicht nur einen minutiösen Bericht der Ereignisse, sondern liest die in seinem Tagebuch festgehaltene Gedankenund Gefühlswelt von damals mit dem Blick von heute. Dieses Buch, das die zur Chiffre abstrahierten Ereignisse der Studentenrevolte weder idealisiert noch dämonisiert, ist ein Glücksfall für alle, die sich mit dieser Zeit beschäftigen. Peter Schneider diskutiert mit Gerd Koenen, damaliger Studentenführer in Frankfurt, Malte Rauch, der sich in Paris engagierte, und seiner Schwester Barbara Schneider, die als Aktivistin nach New York ging, über das, was sie verband, und das, was sie trennte.