"In dieser Stadt gibt es viele Leser"

(pia 9.7.2012) Geboren 1962 in Russland, seit 20 Jahren zuhause in Frankfurt: Olga Martynova, 2011 noch mit dem Frankfurter Autorenstipendium gefördert, ist 2012 die Preisträgerin des Ingeborg Bachmann-Preises. Im Gespräch mit der Leiterin des Referats Literatur im Kulturamt, Sonja Vandenrath, verriet sie Anfang dieses Jahres auch, wie sie von Frankfurts Intellektuellen aufgenommen wurde und warum sie Frankfurt für die wichtigste Literaturstadt Deutschlands hält.

Liebe Olga Martynova, Sie haben sich um das Frankfurter Autorenstipendium 2011 beworben und sind von einer dreiköpfigen Jury für das dritte Frankfurter Autorenstipendium ausgewählt worden. Was bedeutet dieses Stipendium für Sie und Ihr Schreiben?

Das bedeutet vor allem Zeit fürs Schreiben. Als ich die Nachricht bekam, wurde mein Gesicht etwas besorgt, weshalb man mich fragte, ob ich mich darüber freue. Ich war natürlich sehr glücklich. Mein Gesichtsausdruck war dadurch zu erklären, dass ich sofort zu zählen begann, wie viele Kapitel des Romans ich bereits hatte und wie viele ich noch würde schreiben müssen. Man kann das natürlich nicht in Seitenzahlen messen. Gerade jetzt habe ich eine sehr schwierige Phase, weil ich verschiedene Stränge zusammenbringen muss. Das kostet viel Konzentration. Und es ist eine große Hilfe, dass ich das Stipendium habe und nicht auf „Brotarbeit“ angewiesen bin. Sicher ist die „Brotarbeit“ auch Schreiben – das Schreiben von Rezensionen, Essays usw., und ich liebe das. Aber wenn du einen Roman schreibst, willst du nur über ihn nachdenken.

In schöner Regelmäßigkeit wird über Preise und Stipendien als den wichtigsten Förderinstrumente der Literatur diskutiert. Besonders Preise gelten als problematisch, da die Auswahlkriterien als willkürlich und die Zeremonie einer Preisverleihung als anachronistisch gilt. Wie nehmen Sie dies wahr?

Das ist m. E. ein Paradebeispiel dafür, wie man ein Problem dort erschafft, wo es keines gibt. Solche erfundenen Probleme können dazu führen, dass etwas Gutes und Stabiles zerstört bzw. geschwächt wird und nichts an seiner Stelle entsteht. Ich finde, dass die gegenwärtige deutschsprachige Literatur sehr reich und vielseitig ist. Ich bin mir sicher, dass die Fülle von Preisen und Stipendien für diese Blüte mitverantwortlich ist. Dass viele geschätzte Kollegen ab und zu einen Preis oder ein Stipendium bekommen, freut mich auch sozusagen personenbezogen. Natürlich ist die Auswahl subjektiv. Und natürlich würde ich einiges anders machen, wäre ich in der Lage, die Preisträger oder Stipendiaten zu bestimmen. Aber zum Glück sind die Preise und Stipendien zahlreich und vielfältig. Wenn ich weiß, dass die Art von Literatur, die ich schätze, auch gefördert wird, kann ich ruhig bleiben, wenn meines Erachtens nicht so interessante Autoren ihre Erfolge feiern.

Die Zeremonie einer Preisverleihung finde ich sehr wichtig. Die Literatur und die Arbeit mit der Sprache werden in einer Konsumgesellschaft nicht unbedingt (an-)erkannt. Ohne zu feierlich oder zu pathetisch zu werden, kann man einfach sagen: Die Zeremonie einer Preisverleihung ist eine nette Art an die Wichtigkeit der Literatur zu erinnern. Selbstverständlich trifft man ab und zu auf überzogene, zu pathetische Zeremonien, oder auch umgekehrt auf Gleichgültigkeit seitens der Veranstalter, auf zu bürokratische Ausführung. Doch dies ist wie bei allen Dingen im Leben: manche gelingen, manche nicht.

Sie leben seit über zwanzig Jahren in Frankfurt und sind auch familiär mit dieser Stadt sehr verbunden. Dabei ist Russland Ihre Heimat und auch der Roman, an dem Sie gerade arbeiten, spielt wieder in Russland. Bietet Frankfurt nicht genug Stoff für einen Roman?

Doch. Auch Frankfurt kommt vor. Was ich schreibe (das gilt auch für den ersten Roman), balanciert an der Grenze zwischen zwei Welten, die mir gleich vertraut sind. Das entspricht meiner Situation. Man fragt mich oft, ob ich in Deutschland eine neue Heimat gefunden habe. Ich habe lange nachgedacht und eine Antwort gefunden: Russland ist und bleibt meine Heimat. Deutschland ist aber mein Zuhause. Frankfurt ist mein Zuhause wäre wahrscheinlich präziser. Ich sehe hierin keinen Widerspruch. Auf jeden Fall ist mir wichtig, dass sich meine Prosa und deren Figuren in mehreren Welten bewegen. Ein wenig kommen sie auch in sehr fremde Welten. Aber es ist immer schwierig für mich, ein noch nicht geschriebenes Werk vernünftig zu beschreiben. Ich bin selbst sehr gespannt, was daraus wird.

Ich habe den Eindruck, dass Sie und Ihr Mann Oleg Jurjew mit der Frankfurter Intellektuellen- und Literaturszene sehr verbunden sind. Das war sicher bei Ihrer Ankunft anders. Beschreiben Sie mir doch, wie dieser Prozess verlief und welche Rolle Ihre Herkunft dabei spielte.

Wir sind gerne Frankfurter. Wir hatten das große Glück, in dieser Stadt Freunde und Kollegen zu finden, die wir lieben und schätzen. Aber unsere ersten Bekanntschaften in der deutschsprachigen Literatur waren in Berlin, später in Österreich. Frankfurt hat uns langsamer wahrgenommen (oder wir Frankfurt, obwohl uns die Stadt als solche sofort sehr gut gefallen hat). Heute fühlen wir uns hier, wie gesagt, zu Hause. Mir fällt es sehr schwer zu sagen, welche Rolle unsere Herkunft dabei spielte, ob ein zusätzliches Interesse dadurch entstand, dass wir fremd waren (man muss ja sagen, heute sind Russen in Frankfurt und überall in Deutschland eigentlich kein Exotikum mehr). Wenn wir eine Katze sehen, denken wir: „Das ist eine Katze“. Sie aber ist nicht unbedingt damit beschäftigt, dass sie eine Katze ist. Oder wenn wir einen Chinesen sehen, meldet unser Gehirn: „Das ist ein Chinese“. Er aber glaubt, ein Student oder ein Taxifahrer oder ein momentan schlecht bzw. gut gelaunter Mensch zu sein. Und wenn man mich jemandem vorstellt, denke ich nicht, dass jemandem eine Russin vorgestellt wird. Ich denke z.B., dass eine Autorin jemandem vorgestellt wird. Es ist nicht schlimm, als eine Katze oder ein Chinese oder eine Russin oder eine Deutsche definiert zu werden. Aber man selbst definiert sich nicht unbedingt dadurch. Andererseits freuen wir uns immer, wenn unsere Freunde Interesse an der russischen Kultur zeigen, wir sind immer bereit, zu erzählen, zu erklären, vorzulesen usw. Und das Interesse besteht beständig. Aus einem solchen Gespräch mit der HR-Hörspielredakteurin Ursula Ruppel entstand die Idee, ein Hörspiel über zwei Petersburger Lyriker – Joseph Brodsky und Leonid Aronson – zu schreiben. Dieses Projekt war für uns sehr wichtig. Oder ich kann mich an eine Veranstaltung zum Thema Schopenhauer und Tolstoi erinnern, die wir für das Museum für Stadtgeschichte machten: Um die zweihundert Menschen kamen! Ich glaube, Frankfurt ist eine sehr offene und freundliche Stadt mit einer Tradition der bürgerlichen Kultur, die mir gefällt. Und – wenn ich schon die Möglichkeit habe, das auszusprechen – ich finde, dass der Main und seine beiden Ufer, wenn sie in der Nacht beleuchtet sind, mittlerweile zu den schönsten nächtlichen Landschaften der Welt gehören.

Frankfurt definiert sich als die wichtigste Buch- und Literaturstadt Deutschlands. Hand aufs Herz, teilen Sie unsere Einschätzung?

Hand aufs Herz – ja! In erster Linie, weil es viele wunderbare Autoren gibt, die in dieser Stadt leben und schreiben. Und es gibt in dieser Stadt viele Leser, die auch zu literarischen Lesungen und Veranstaltungen kommen. Für mich machen die Menschen die Stadt aus. Verlage, Buchhandlungen, Buchmessen sind natürlich auch ein Teil der Literatur, aber das ist nicht das, woran ich als Erstes denke. Ich mag es aber, in einer Buchmessestadt zu leben. Selbstverständlich kennen wir alle die traurigen Verlagsgeschichten der letzten Zeit: Pleiten, Umzüge, Pleitenumzüge ... Mein Mann scherzt ab und zu, dass wir hier wie in der DDR der 80er Jahre leben: Alles haut ab. Aber das ist seine Art von Humor, er ist bekanntlich selbst Autor eines abgewanderten Verlags.

Sie gehören zu den Autoren, die erst relativ spät mit dem Schreiben von Romane begonnen haben. Als Sie ihren Debütroman „Sogar Papageien überleben uns“ vorgelegt haben, konnten Sie bereits ein sehr beachtetes lyrisches und essayistisches Werk verweisen. Was bietet Ihnen die Prosa, was die Lyrik als die konzentriertes und verdichtetes, zugleich der Musik am nächsten kommende literarische Form, nicht kann?

Das ist eine nicht so einfache Frage, weil ich mir sicher bin, dass die Lyrik alles kann. Prosa zu schreiben war für mich ein Abenteuer. Das ist eine völlig andere Art zu sprechen, zu empfinden, zu denken. Prosa ist mitteilend. Ich wollte meine persönliche Erfahrung teilen, ich meine das Leben in zwei Kulturen, die Möglichkeit des Perspektivwechsels. Die lange, wechselhafte und komplizierte Beziehung der russischen und der deutschen Kultur ist für mich selbstverständlich zum Gegenstand des Nachdenkens geworden. Wir sind im 21. Jahrhundert immer noch nicht frei vom 20. Jahrhundert. Und ich war (und bin) mir sicher, dass ich etwas dazu zu sagen habe, was ich lieber als Prosa sage.

Mit dem Genrewechsel ist ein Sprachwechsel verbunden; ihre Romane schreiben Sie nämlich in Deutsch. Ist Deutsch die der Prosa gerecht werdende Sprache?

Nein, ich glaube, dass das nicht an den Eigenschaften der Sprache liegt, sondern nur an meiner eigenen Geschichte. Auf Russisch habe ich nie Prosa geschrieben, nur Gedichte. Das Russische bleibt für mich meine Lyrik-Sprache. Als Prosaautorin wurde ich hingegen direkt im Deutschen sozialisiert. Ich habe seit Ende der 90er regelmäßig Essays und Buchbesprechungen für deutschsprachige Zeitungen geschrieben. Und es war für mich einfach natürlich, einen Roman auf Deutsch zu schreiben.

Wann dürfen wir uns freuen, dass Sie den Roman, den Sie vielleicht auch mit der Unterstützung des Frankfurter Autorenstipendium gerade schreiben, bei den „Frankfurter Premieren“ in der Villa Metzler vorstellen?

Vielen Dank für die Einladung! Es wird mir eine große Freude sein, in einem Haus zu lesen, an dem eine Gedenktafel mit den Gesichtern zweier großer russischer Dichter hängt: Wassilij Shukowsky, der eine Zeit lang in Frankfurt lebte, und Nikolaj Gogol, der ihn hier besuchte. Sehen Sie, wir sind nicht die ersten russischen Autoren, die zu Wahlfrankfurtern wurden. Ich hoffe sehr, dass ich gegen Ende dieses Jahres mit dem Buch fertig werde. Das kann ich aber nicht versprechen. Ich schreibe lieber zu langsam als zu schlecht.